Hoshinaga Fumio - Haiku Auswahl
Übertragung der Haiku und Kommentare:
Udo Wenzel mit freundlicher Unterstützung von Richard Gilbert und Itô Yûki
逃げ水へ戦後の父を追いつめる
nigemizu e sengo no chichi wo oitsumeru
Eine Luftspiegelung,
von Nachkriegsvätern
verfolgt
Anmerkung von Richard Gilbert: Das Frühlings-kigo „Luftspiegelung“ zeigt den Zeitgeist einer Epoche an. Das Bild schwebt über der Oberfläche, es verschwindet, sobald wir uns nähern. Gesellschaftskommentar, persönliche Meinung und Landschaftsbild vereinen sich in diesem Text und verweisen auf eine Generation, die allmählich aus unserem Leben verschwindet.
縄とびの輪に蜩が入ってくる
nawatobi no wa ni higurashi ga haittekuru
In den Springkreis des Springseils springt eine Zikade
革命が雪の売店で買えるか、な
kakumei ga yuki no kiyosuku de kaeru ka, na
Die Revolution
im verschneiten Kiosk
zum Verkauf? , !
Anmerkung von Richard Gilbert: Eine winterliche Schneelandschaft mit einem Kiosk – „kiyosuku“, ein türkisches Lehnwort. Bahnhofskioske, die die Gelegenheit boten, Literatur zu kaufen, kamen erst im Nachkriegsjapan in Mode. Sie repräsentierten eine neue Welt, eine Welt des Konsums und der ökonomischen Entwicklung, in gewisser Weise eine kulturelle Revolution. Besonderes formales Element dieses Haiku ist die Verwendung von na, ein fragmentarisches Zeichen, das der Betonung dient und auf ein Fragezeichen (ka), Komma und Leerzeichen folgt. So changiert die Aussage zwischen Gewissheit und Zweifel oder auch Unglauben; die Orthographie verunmöglicht eine eindeutige Interpretation und intensiviert die Offenheit der Frage.
筍山から謀反の徒が出る 風に出る
takenokoyama kara muhon no to ga deru kaze ni deru
Vom Berg der Bambusschößlinge brechen Rebellen auf - wider den Wind
Anmerkung von Richard Gilbert: Das Freistil-Haiku hat 21 on (8-8-5). Ein Berg voller Bambusschößlinge (Sommer-kigo) wird als wertvoller Gegenstand und Delikatesse betrachtet, doch kommen in jüngster Zeit nur noch wenige Bauern in die Haine, um die Schößlinge zu ernten. Das hat zur Folge, dass ungenutzte Haine unter Überpopulation leiden und erkranken. Der junge Bambus wirkt wie eine Anspielung auf die Jugendrevolte, ein Aufbruch, um den Wind herauszufordern und zu besiegen. Eine poetische Metapher, die sozialkritisch gedeutet werden könnte. Das Haiku scheint auch eine zutiefst persönliche Dimension zu erhalten, den individualistischen Ruf nach einem freien und unabhängigen Geist; der Dichter schließt sich den Rebellen an.
遊園地にナチスがいっぱいです 秋
yûenichi ni nachisu ga ippai desu aki
Der Vergnügungspark
voll von Nazis –
Herbst
Anmerkung von Richard Gilbert: Viele Haiku von Hoshinaga thematisieren die Schattenseiten der menschlichen Natur und nehmen Bezug auf das destruktive Potential politischer Ereignisse oder auf schwierige gesellschaftliche Fragestellungen. In seinem Buch Kumaso-Ha tauchen mehrfach Nazis auf (wie auch Rebellen und die Revolution). Schwarzer Humor und Ironie verbinden hier „Vergnügen“ mit Nazis. Das Bild des Haiku könnte bezogen auf den Holocaust interpretiert werden, bei den Nazis könnte es sich aber auch nur um eine Bande aus der Nachbarschaft handeln. Der Autor scheint sich zu fragen, ob sich die Geschichte wiederholt. Durch die Verwendung des kigo „Herbst“ am Ende des Haiku verwandelt sich die entspannte Atmosphäre eines Vergnügungsparks in eine Stimmung der Bedrohung und des Stumpfsinns.
立冬や 棒になりきるまで歩く
rittô ya bô ni narikiru made aruku
Winteranfang!
Auf dem Spaziergang wandle ich mich vollständig
in einen Stock
Anmerkung von Richard Gilbert: In diesem Haiku treten Mensch und Natur auf überraschende Weise in Verbindung. Die Verwendung von „vollständig in“ ist eine erfinderische Lösung: der Rhythmus des auf dem ersten Takt betonten Wortes (NAri|KIru|MAde) fügt der Vorstellung der Verwandlung etwas Realistisches hinzu und verschafft ihr mehr Präsenz.
Das Haiku scheint ein gutes Beispiel für das zu sein, was Hoshinaga die Herstellung von „menschlichen mentalen Bildern“ nennt. Sowohl die Metapher als auch die Ausdrucksweise dringen in den Realismus ein und erschaffen eine natürliche Szene, in der Mensch und Natur nicht mehr getrennt, sondern in Harmonie vereint sind. Das Spiel zwischen der Allusion auf „gefrieren“ und der eigentlichen (undurchführbaren) Verwandlung in ein natürliches Objekt wirkt charmant und erfrischend.
春の樹に登る 戦争が見えるまで
haru no ki ni noboru sensō ga mieru made
Baum im Frühling -
ich klettere hinauf bis ich
den Krieg erblicke
Anmerkung von Richard Gilbert: Hier werden bildhafter Shasei-Stil und die verwandte geradlinige Juxtaposition unterminiert von dem enthüllenden Schock des über der Mauer gesehenen Krieges. Die Erwartung einer (schönen, ansprechenden) bildhaften Naturszene erfährt eine überraschende Wendung. Die Präzision und der Rhythmus des Haiku erzeugen einen beißenden Gesellschaftskommentar . Handelt es sich um eine realistische Darstellung oder ein inneres Bild? Durch die Unbestimmtheit des Bildes wird der Krieg unermesslich, innere und äußere Erscheinung verschmelzen.