Tsubouchi Nenten - Haiku Auswahl
Übersetzung:
Udo Wenzel mit freundlicher Unterstützung von Robert F. Wittkamp,
Richard Gilbert und Itô Yûki
Tsubouchi Nenten (坪内稔典 geb. 1944) Ausgewählte Haiku aus haiku nyûmon
[Einführung in das Haiku], Sekai Shisôshya, Tôkyô: 1998 und andernorts.
春風に母死ぬ龍角散が散り
はるかぜにははしぬりゅうかくさんがちり
harukaze ni haha shinu ryûkakusan ga chiri
Im Frühlingswind –
meine Mutter tot, das Kräuterpulver
verweht
水中の河馬が燃えます牡丹雪
すいちゅうのかばがもえますぼたんゆき
suichû no kaba ga moemasu botanyuki
Im Wasser ein Flusspferd
brennt -
Schneeblumen
Anmerkung von Udo Wenzel: botanyuki sind große Schneeflocken oder Schneeflockenmuster, die als ‘Schneeblumen’ bekannt sind. botan ist eine Pfingstrose. Tsubouchi Nenten benutzt hier ungewöhnlicherweise die Höflichkeitsform des Verbs „brennen“, was mit „Sie brennen“ übersetzt werden könnte.
バッタとぶアジアの空のうすみどり
ばったとぶあじあのそらのうすみどり
batta tobu ajiano sora no usumidori
Heuschrecken fliegen,
der asiatische Himmel
in sanftem Grün
桜散るあなたも河馬になりなさい
さくらちるあなたもかばになりなさい
sakura chiru
anata mo kaba ni narinasai
Kirschblüten fallen -
auch du mögest
ein Flusspferd werden
Anmerkung von Udo Wenzel: Auch hier verwendet Tsubouchi Nenten eine Höflichkeitsform, die Bitte.
春を寝る破れかぶれのように河馬
はるをねるやぶれかぶれのようにかば
haru o neru
yabure kabure no yô ni kaba
Den Frühling schlafen
wie in Verzweiflung
ein Flusspferd
Anmerkung von Udo Wenzel: Die Sprachwendung „haru o neru“ - „den Frühling schlafen“ wirkt im Japanischen ebenso befremdlich wie im Deutschen, ein modernes kunstvolles Haiku in literarischer Sprache.
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Anmerkung von Richard Gilbert: Die zwei folgenden Beispiele entziehen sich völlig einer einfachen Übersetzung, sie enthalten Wortspiele, die nicht übertragbar sind. In der Haiku-Ästhetik von Tsubouchi Nenten sind derartige Spiele mit der Sprache von großer Bedeutung.
三月の甘納豆のうふふふふ
さんがつのあまなっとうのうふふふふ
sangatsu no amanattô no ufufufufu
Süße Bohnenmusleckerei im März -
verhaltenes Kichern
(1) In Japan ist der Monat März (san-gatsu) das Ende des Geschäftsjahres, einerseits ist er erfüllt von neuer Vitalität, andererseits schwingt etwas Trauriges mit, eine Stimmung des Abschieds vom Alten und Vertrauten. Man nennt ihn auch: deai to wakare no kisetsu (die Jahreszeit der Treffen und Abschiede).
(2) amanattô — traditionelle japanische Süßigkeiten, die aus Bohnenmus und Zucker hergestellt werden, Das Wort ‘süße nattô’ erinnert an “nattô”, (vergorene Sojabohnen) eine Speise mit prägnantem Schimmelkäse-Geruch und Geschmack, der im Volksglauben zahlreiche gesundheitsfördernde Wirkungen zugeschrieben werden und die als eine Art “Seelenkost” (zur Steigerung der Lebensfreude) betrachtet wird.
(3) u fu fu fu fu — Im vorhandenen Kontext erzeugt die lautmalerische Zeichenkombination das Bild einer Gruppe älterer Frauen, die gemeinsam Süßigkeiten naschen – in Japan ist „ufufu“ eine Art verhaltenes leises Kichern. Vorstellbar sind vor den Mund gehaltene Hände, die das Kichern der Naschenden verbergen soll.
(4) Das Haiku enthält eine Personifikation: es scheint, als kicherten die amanattô selbst in der Art der Frauen vor sich hin. Dieses Haiku gehört zu den bekanntesten von Tsubouchi Nenten und wird häufig zitiert.
たんぽぽのぽぽのあたりが火事ですよ
たんぽぽのぽぽのあたりがかじですよ
tanpopo no popo no atari ga kaji desuyo
Pu Pusteblume pu puste
sieh! – wie sie rundherum brennt
Anmerkung von Richard Gilbert: (1) tanpopo ist der Löwenzahn oder die Pusteblume (wiss. N.: Taraxacum hondoense). Das popo von tanpopo ist ein Neologismus, eine onomatopoetische Wortschöpfung. Mit der Verwendung von popo erhält das eigentlich nicht onomatopoetische tanpopo selbst lautmalerischen Charakter. Wörtlich übersetzt heißt es: das “popo” von “tanpopo” steht in Flammen. In diesem Wortspiel repräsentiert popo sowohl die Peripherie der Blume als auch die zweite Hälfte (den „Rand) des Worts.
(2) desuyo zeigt in einem Dialog einen Ausruf gefühlsmäßiger Erregung an, wie z.B.: „Sieh!“, “Hier, die Kraft des Feuers! aber auch “Überraschung!’
(3) popo-popo-popo (etc.) versinnbildlicht das Geräusch einer Dampflokomotive; einen Lokomotivführer nennt man “popo-ya” und “shushu popo” ist eine Bezeichnung, die Kinder für Lokomotiven verwenden. Das Wort poppo findet man im jesuitischen japanischen Wörterbuch von 1603 erklärt als “die Art und Weise, in der Dampf oder Feuer aufsteigt”.